Kompetenztraining mit Fallstudien – geht das?

In dem hier bereits vorgestellten Projekt zur Kompetenzentwicklung für Krisenmanager diskutieren wir zur Zeit die Frage, inwieweit man solche Kompetenzen trainieren kann. Der Wunsch danach ist sehr verständlich, weil man dann quasi als „Vorratslernen“ Kompetenzen zur Bewältigung von Krisen aufbauen könnte, die bei Bedarf abgerufen werden. Andererseits erfahren wir in unseren Projekten, dass Kompetenzen nur bei der Bewältigung herausfordernder Problemstellungen selbstorganisiert entwickelt werden können. Wie soll dann ein Training von Kompetenzen erfolgen? Die naheliegende Idee sind realtitätsnahe Fallstudien, in der die Krisenmanager vor allem ihre fachlich-methodischen Kompetenzen aufbauen sollen.

Die Fallstudien-Methode (Case-Study-Method) wurde 1870 an der Harvard Law School entwickelt und seit 1920 eingesetzt. Das Ziel dieses pädagogischen Ansatzes ist es, komplexe Sachverhalte und Problemstellungen aus der Wirtschaftspraxis als Grundlage eines problemlösungsorientierten Lernprozesses zu nutzen, um theoretische Erkenntnisse und ihre praktische Ausprägung in der Praxis zu verknüpfen.[1] Fallstudien bilden seit langer Zeit einen festen Bestandteil der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung an Hochschulen sowie in der Managementschulung. Insbesondere Studiengänge in Business Schools basieren vielfach, manchmal fast ausschließlich, auf Fallstudien, aber auch im Aus- und Weiterbildungsbereich wird dieser Ansatz häufig genutzt.

Fallstudien sollen die Möglichkeit bieten, relevante Probleme , mit denen die Lerner in ihrer Praxis konfrontiert sind, zu bearbeiten und Lösungen zu entwickeln. Das Ziel ist, dass die Lerner Ihre Handlungskompetenz bei der Lösung von Aufgaben in ihrer zukünftigen Arbeitswelt sowie ihre Entscheidungsfähigkeit entwickeln.

Fallstudien sind naturgemäß immer vereinfachte Spiegelbilder der Praxis. Eine Fallstudie, die auch nur annäherungsweise die Komplexität der Realität widerspiegelte, würde alle Dimensionen sprengen. Während in der Realität sowohl die Problemstellungen als auch die relevanten Fakten offen und kaum überschaubar sind, werden in Fallstudien beide Bereiche in erheblich verkürzter Form vorgegeben, so dass die Variationsmöglichkeiten nur noch einen Bruchteil der Realität ausmachen.

Die Entwicklung einer Lösung für Fallstudien erfolgt, auch wenn sie in Gruppen getroffen wird, in einer Laborsituation mit einer künstlichen Versuchsanordnung. Sie ist deshalb nicht mit Entscheidungsprozessen in der Realität vergleichbar. Es sind z.B. keine „echten“ Interessenskonflikte auszutragen, die Folgen der Entscheidung sind im Regelfall für die eigene Entwicklung nicht relevant und der Entscheidungsprozess erfordert nur einen Bruchteil der Zeit, die Abstimmungsprozesse in der Praxis benötigen. Auch fehlen wesentliche emotionale Faktoren, die durch chaotische Verhältnisse, extremen Zeitdruck, psychischem und physischem Stress, mangelnde Informationen oder dem hohen Entscheidungsdruck, wenn es beispielsweise um Leben oder Tod geht, ausgelöst werden.

Eine Interiorisation von Werten kann damit nicht erreicht werden, die Lerner können höchstens für diesen Aspekt der Problemlösung sensiblisiert werden. Der für die Kompetenzentwicklung zwingend notwendige Prozess der emotionalen Labilisierung ist nur möglich, wenn sich die Lerner in realen Situationen beweisen müssen und Entscheidungen zu treffen haben, deren Folgen sie mit allen Konsequenzen tragen müssen. Fallstudien sind damit ein geeignetes Mittel, um die Wissensverarbeitung bzw. Qualifizierung im Rahmen von formellen Lernprozessen praxisorientiert zu gestalten, aber auch nicht mehr! Erst wenn wir in der Lage wären, simulative Herausforderungen zu gestalten, die der Lerner als real empfindet, wie z.B. im Flugsimulator, hätten wir ein entsprechendes Trainingsinstrument in der Hand.

Da wir diese Möglichkeit für die Simulierung von Krisensituationen heute noch nicht haben, können wir die erforderlichen Kompetenzen nicht trainieren. Wir können jedoch Fallstudien dafür nutzen, vor allem die fachlich-methodische Qualifizierung sicher zu stellen, die notwendige Voraussetzung für die Kompetenzentwicklung in den Krisensituationen selbst sind. Deshalb sehe ich Fallstudien für diese Zielgruppe nur dann als sinnvoll an, wenn sie in eine Lernarrangement eingebettet werden, das Transferaufgaben und herausfordernde Projektaufträge enthält, in denen die beschriebenen Interiorisierungsprozesse stattfinden können. Deshalb müssen wir uns noch für einige Zeit von den überzogenen Erwartungen an Fallstudien trennen.

[1] Vgl. u.a. Kaiser, F.-J., Kaminski, H. (1999), 37ff.; Weitz,.O. (2007)

3 Gedanken zu “Kompetenztraining mit Fallstudien – geht das?

  1. Hmm, ist nicht streng genommen auch der Flugsimulator eine Laborsituation? Damit der Lerner eine Simulation als real empfindet, sollte er sie nicht wahrnehmen dürfen … Theoretisch.
    Gruß, JR

    Like

  2. Der Flugsimulator ist sicher auch eine Laborsituation. Entscheidend ist aus meiern Sicht, wie der Lerner diese empfindet. Wenn die Simulation so realistisch ist, dass er vergisst, dass er in einer künstlichen Umgebung sitzt, dann können tatsächlich Kompetenzen aufgebaut werden.

    Viele Grüße, WS

    Like

    • Das scheint mir sehr schlüssig: „Wenn man vergisst in einer künstlichen Situation zu sein, dann können tatsächlich Kompetenzen aufgebaut werden.“ Ein guter Gedanke. Der lässt sch auch gut übertragen auf die ewige Diskussion virtueller und realer Umgebungen. Auch dort kommt es auschließlich auf die realen Empfindungen und Wahrnehmungen der beteiligten Personen an – und nicht auf das Medium.
      Viele Grüße Karlheinz

      Like

Hinterlasse einen Kommentar